Der Glöckner von Notre-Dame

Der Autor dieser Geschichte ist der emblematischste aller französischen Schriftsteller, Humanist und Politiker, Realist und Exilant: Victor Hugo war ein facettenreicher Mann und »Der Glöckner von Notre-Dame« ist sein wohl vielseitigstes Werk. Das Epos wirft uns mitten hinein ins Paris des Jahres 1482, in den zügellosen Trubel der Dreikönigsfeier rund um die Kathedrale Notre-Dame de Paris, wo ein bunter Strauß von Figuren das Werden und Vergehen des Mittelalters illustriert. Der junge Dichter Gringoire, der Diakon Frollo, die schöne Esmeralda und natürlich der bucklige Quasimodo begegnen dort einander und uns. Hugo erzählt von Liebe und Hass, von Neid, Heldentum, Intrige und Opfermut – kurzum, von allem, was menschlich ist. (Verlagstext)

Mit diesem Album macht sich Splitter ein bisschen selber Konkurrenz. Eine Adaption des Glöckners haben sie nämlich schon im Programm – in zwei Bänden zwar ein bisschen kitschig, aber wunderhübsch vierfarbig von Jean Bastide gezeichnet. Der kitschige Ton des Zweiteilers passt durchaus zur Geschichte, denn Hugo war wie Dickens und andere kritische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts vor allem Moralist, der die Probleme der Zeit hauptsächlich im schlechten Charakter der Herrschenden, und nicht in der Herrschaftsstruktur an sich sah.

Georges Bess dagegen interessiert sich, wie schon in seinen Dracula– und Frankenstein-Adaptionen, weniger für die Moral, als für die Absonderlichkeit seiner Figuren. Schräge Gestalten, kranke Gehirne, tragische Schicksale, das ist seine Welt, und die kann er gut. Da passen miese Charaktere wie Claude Frollo und verkrüppelte Schreckgestalten wie Quasimodo prima rein. Seine Schwarzweiß-Zeichnungen betonen wie immer mehr die düstere Seite der Geschichte (manche Bilder erinnern an Illustrationen von Gustave Doré), aber auch der Herzschmerz kommt nicht zu kurz. Wer Georges Bess mag, wird dieses Album lieben. Wer Hugo mag, auch. Und wer die Geschichte nur aus dem Kino kennt, findet hier mehr Spannung und Realismus als in manch seichter Verfilmung.

Georges und Pia Bess, Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame
Aus dem Französischen von Harald Sachse
208 SW-Seiten, gebunden, 39,80 Euro, Splitter, ISBN 978-3-98721-400-4
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Mit Mantel und Worten + Zur Sonne

Im Palast treten sich die Gesellschaftsdamen auf die Füße. Doch keine der zahlreichen jungen Frauen ist in der Lage, die Launen ihrer herrschsüchtigen Königin zu befriedigen. Dennoch beschließt auch Serine, ihr Glück bei Hofe zu versuchen – das kann nur besser sein, als im Herrenhaus ihrer Familie zu verstauben. Mit ihrem Gefallen an skurrilen Wörtern und mit ihrem Schabernack bringt das lebenslustige Mädchen schnell einen Hauch von Wahnsinn an den königlichen Hof. Ohne zu ahnen, dass sie dabei ihr Leben riskiert… In gewohnt dynamischen Bildern setzt das französische Autor:innenduo Kerascoët den vergnüglichen und wendungsreichen Roman von Flore Vesco als Comic um. (Verlagstext)

Das tun sie. Marie Pommepuy und Sébastien Cosset, die das Team Kerascoët bilden, zeichnen meist rundum liebliche Gestalten, die man auf den ersten Blick sympathisch findet. Das kann verwirren, wenn man entdeckt, welch grausame Späße sie sich erlauben (Jenseits). Meist sind es aber pfiffige Figuren, die auf ihre eigene Art Lösungen für komplizierte Probleme finden (Fräulein Rühr-mich-nicht-an). Das ist auch in dieser Romanadaption der Fall, in der es hilfreich ist, dass Serine sich mit dem Sohn des Henkers anfreundet (der in Wirklichkeit, ohne es zu wissen, jemand ganz anderes ist) – denn am Ende landet sie selbst im königlichen Kerker. Für Spannung ist gesorgt, und die wunderhübschen Zeichnungen karikieren die Handlung zusätzlich.

Kerascoët, Flore Vesco: Mit Mantel und Worten
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock
104 Seiten, gebunden, 24,- Euro, Reprodukt, ISBN 978-3-95640-364-4
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Seit Ewigkeiten schon spricht Frank davon, seine Kneipe an den berühmten Nagel zu hängen. Alt genug ist er ja. Aber der schönste Platz ist und bleibt der an der Theke – viele seiner Gäste sind ihm über die Jahre zu Freundinnen und Freunden, mehr noch: zur Familie geworden. Ein kaputter Kühlschrank und ein Anruf seiner Tochter bringen Franks „Familienleben“ eines Abends jedoch reichlich durcheinander… Matthias Lehmann ist seit seinem Reprodukt-Debüt „Parallel“ bekannt für seine einfühlsamen Milieuerzählungen. Auch im Episodencomic „Zur Sonne“ spielt er diese Qualitäten gekonnt aus: An Franks Kneipentresen treffen Polizeispitzel auf Schlachtereiarbeiter, Konzertpianisten auf Putzfrauen und Autoren auf widerspenstiges weißes Papier. Während Matthias Lehmann zeichnerisch den Rahmen vorgibt, werden die Geschichten der Gäste von seinen Kolleg:innen Sascha Herrmann, Nina Hoffmann & Katja Klengel erzählt… (Verlagstext)

Und das bringt Abwechslung in die Bude. Jeder der Kneipenbesucher hat so seine eigenen Probleme, die mal in bierseliger Atmosphäre bejammert, mal in Hoffnung auf garantiert bald eintretende Verbesserungen weg fantasiert werden. Real ändern tut sich wenig, aber ab und zu spielt das Leben auch seine sonnigen Karten aus. Fünf lebensechte Geschichten in stimmiger Atmosphäre, wie immer bei Lehmann in dem ihm eigenen Schwarzweiß-Stil gezeichnet. Regelmäßige Gaststättenbesucher werden darin möglicherweise den ein oder anderen Charakter ihrer Stammkneipe wiedererkennen.

Matthias Lehmann, Katja Klengel, Nina Hoffmann, Sascha Herrmann: Zur Sonne
112 Seiten, gebunden, 20,- Euro, Reprodukt, ISBN 978-3-95640-366-8
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Tolldreiste Geschichten

Derbe Späße in feinen Bildern: Hundert sollten es werden – in ehrfürchtiger Anlehnung an Boccaccios »Decamerone« – dreißig sind es geworden: In seinen »Tolldreisten Geschichten« eiferte Honoré de Balzac seinem großen Vorbild François Rabelais nach und schuf zwischen 1832 und 1837 eine Sammlung vergnüglicher Erzählungen über die feine französische Gesellschaft des Spätmittelalters. Mal kurzweilig dahinplätschernd, mal beißend satirisch, dann auf einmal historisch untermauert ließ Balzac seinem schriftstellerischen Genie freien Lauf, um ein kaleidoskopisches Porträt des Hochadels zu zeichnen. Vier dieser Geschichten nehmen sich die Gebrüder Brizzi vor und verwandeln sie in dieser Graphic Novel in feinsinnige Bildgeschichten. Mit expressivem Verve und ohne Angst vor Übertreibung tragen sie die Fackel von Gustave Doré, Albert Dubout und Albert Robida in ein einundzwanzigstes Jahrhundert, in dem der Hochadel größtenteils verschwunden, die menschliche Natur aber scheint’s unverändert geblieben ist. (Verlagstext)

Rabelais war kein Feingeist – er zog den deftigen Braten der Haute Cuisine vor, und Balzac machte es ihm in seinen tolldreisten Geschichten nach. Hier dreht sich (fast) alles um Liebe und Triebe. Geistige Höhenflüge darf man nicht erwarten, das Frauenbild entspricht längst nicht mehr der political correctness, ein paar pfiffige Wendungen kommen trotzdem darin vor. Balzacs Geschichten werden nacherzählt (es gibt keinen O-Ton Balzac), wobei Paul und Gaëtan Brizzi sich mit Text erfreulich zurückhalten und hauptsächlich die Bilder sprechen lassen. Und die sind wirklich stark.

Regelmäßige Leser von Comickunst wissen, dass ich ein Fan von Schwarzweiß-Zeichnungen bin, denn: Mit Farbe kann man viele Unzulänglichkeiten zukleistern – Schwarzweiß muss man können. Und die beiden haben es wirklich drauf. Was für Gesichter! Was für Gestalten! Wer Balzacs tolldreiste Erzählungen mag (nicht zu verwechseln mit seiner menschlichen Komödie), bekommt hier ein rundum schönes Album – und darf sich nach der Lektüre schon auf Dantes Inferno freuen. Das soll nämlich, wieder von Paul und Gaëtan Brizzi in Szene gesetzt, im Oktober ebenfalls bei Splitter erscheinen.

Paul Brizzi, Gaëtan Brizzi: Tolldreiste Geschichten – nach Honoré de Balzac
Aus dem Französischen von Tanja Krämling
128 SW-Seiten, gebunden, 29,80 Euro, Splitter, ISBN 978-3-96219-124-5
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