Atan von den Kykladen

Atan lebt vor etwa viertausendfünfhundert Jahren auf den Kykladen, einer griechischen Inselgruppe. Der stille, introvertierte Junge hat eine außergewöhnliche Begabung für das Modellieren von Ton und erschafft mythologische Figuren, die die Jahrtausende überdauern sollen und schließlich im Louvre in Paris landen werden. Seine Eltern erkennen früh, dass Atan ohne seine Kunst nicht leben kann und schicken ihn auf die Insel Naxos, wo er zum Marmorbildhauer ausgebildet wird. Doch dort ist er gezwungen, seine Kreativität aufzugeben und sich stattdessen auf Geschicklichkeit und Technik zu konzentrieren – bis seinem Lehrmeister aufgeht, dass er die künstlerische Entwicklung seines Zöglings nicht einschränken darf. (Verlagstext)

Von Vanistendael sind schon einige Comics bei Reprodukt erschienen. In dem Band Kafka für Afrikaner geht es um die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Belgierin und einem togolesischen Flüchtling, in Penelopes zwei Leben schildert sie den Spagat einer jungen Ärztin zwischen syrischem Bürgerkrieg und heimischen Familienleben. Jetzt hat sie sich von einer kleinen Kykladenstatue im Louvre zu einem Album über griechische Kultur inspirieren lassen.

Kykladische Kunst entstand um 3000 vor Christus, manche Teile auch früher. Beispielsweise kleine Marmorfiguren, die Menschen und Tiere darstellen, aber auch praktische Dinge wie Töpfe oder Vasen. Atan arbeitet am liebsten mit Ton. Er hat ein gutes Gefühl für das Material. Als Eigenbrötler muss er seinen Weg allerdings erst noch finden. Judith Vanistendael schaut ihm dabei zu und schafft so lebendige Bilder, dass man am liebsten den nächsten Flieger nach Griechenland buchen möchte.

Judith Vanistendael: Atan von den Kykladen
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
128 Seiten, gebunden, 22,-, Reprodukt, ISBN 978-3-95640-408-5
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Der Glöckner von Notre-Dame

Der Autor dieser Geschichte ist der emblematischste aller französischen Schriftsteller, Humanist und Politiker, Realist und Exilant: Victor Hugo war ein facettenreicher Mann und »Der Glöckner von Notre-Dame« ist sein wohl vielseitigstes Werk. Das Epos wirft uns mitten hinein ins Paris des Jahres 1482, in den zügellosen Trubel der Dreikönigsfeier rund um die Kathedrale Notre-Dame de Paris, wo ein bunter Strauß von Figuren das Werden und Vergehen des Mittelalters illustriert. Der junge Dichter Gringoire, der Diakon Frollo, die schöne Esmeralda und natürlich der bucklige Quasimodo begegnen dort einander und uns. Hugo erzählt von Liebe und Hass, von Neid, Heldentum, Intrige und Opfermut – kurzum, von allem, was menschlich ist. (Verlagstext)

Mit diesem Album macht sich Splitter ein bisschen selber Konkurrenz. Eine Adaption des Glöckners haben sie nämlich schon im Programm – in zwei Bänden zwar ein bisschen kitschig, aber wunderhübsch vierfarbig von Jean Bastide gezeichnet. Der kitschige Ton des Zweiteilers passt durchaus zur Geschichte, denn Hugo war wie Dickens und andere kritische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts vor allem Moralist, der die Probleme der Zeit hauptsächlich im schlechten Charakter der Herrschenden, und nicht in der Herrschaftsstruktur an sich sah.

Georges Bess dagegen interessiert sich, wie schon in seinen Dracula– und Frankenstein-Adaptionen, weniger für die Moral, als für die Absonderlichkeit seiner Figuren. Schräge Gestalten, kranke Gehirne, tragische Schicksale, das ist seine Welt, und die kann er gut. Da passen miese Charaktere wie Claude Frollo und verkrüppelte Schreckgestalten wie Quasimodo prima rein. Seine Schwarzweiß-Zeichnungen betonen wie immer mehr die düstere Seite der Geschichte (manche Bilder erinnern an Illustrationen von Gustave Doré), aber auch der Herzschmerz kommt nicht zu kurz. Wer Georges Bess mag, wird dieses Album lieben. Wer Hugo mag, auch. Und wer die Geschichte nur aus dem Kino kennt, findet hier mehr Spannung und Realismus als in manch seichter Verfilmung.

Georges und Pia Bess, Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame
Aus dem Französischen von Harald Sachse
208 SW-Seiten, gebunden, 39,80 Euro, Splitter, ISBN 978-3-98721-400-4
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Merel

Ein Album über Verleumdung und Mobbing: Merel ist Mitte vierzig, unverheiratet, kinderlos – und glücklich. Bis eine Nachbarin ein übles Gerücht im Dorf verbreitet und die eigensinnige Merel zur Zielscheibe macht. Plötzlich gerät ihr ganzen Leben aus den Fugen und Merel findet sich in einem Strudel aus Missgunst und Mobbing wieder, aus dem sie sich allein nicht mehr befreien kann … Auf beeindruckende Weise erzählt die Belgierin Clara Lodewick in ihrem Debüt von der Vielschichtigkeit gesellschaftlicher Erwartungen an Frauen und zeichnet dabei ein scharf beobachtetes Panorama über das Leben auf dem Dorf. (Verlagstext)

Es ist so einfach: Hier eine Halbwahrheit, da ein Gerücht, hier eine Andeutung hinter vorgehaltener Hand, und schon sind eigentlich alle der Meinung, dass… Dabei ist Merel im Grunde eine harmlose Frau, die ihre Zeit mit Entenzucht verbringt und darauf hofft, auf der jährlichen Geflügelschau einen Preis zu gewinnen. Und wenn sie keinen gewinnt, auch zufrieden ist.

Ja, sie lebt etwas abseits der Dorfgemeinschaft. Und ja, sie ist nicht verheiratet. Aber die nackten Männer unter der neuen Dusche des Fußballvereins interessieren sie nicht wirklich. Sie soll nur einen kleinen Artikel über die Duschen für das Provinzblatt schreiben. Einen Lover hat sie selber. Sogar einen ausgesprochen netten. Doch irgendwann streut ein Gerücht durch das Dorf, und auch die Kinder bekommen einiges mit. Und sind froh, endlich jemanden zu haben, dem sie guten Gewissens Streiche spielen können. Dumm nur, dass es dabei nicht bleibt.

Die belgische Zeichnerin Clara Lodewick erzählt gerne Geschichten über die Beziehungen von Menschen zu-, und den sozialen Ungleichheiten untereinander. Dass sie sich damit auskennt, merkt man dem Album an. Kein Knaller, eher ruhig erzählt, aber eine subtile Studie zwischenmenschlicher Verhaltensweisen.

Clara Lodewick: Merel
Übersetzung ins Deutsche von Christiane Bartelsen
160 Seiten, gebunden, 26,- Euro, Carlsen, ISBN978-3-551-75508-7