Tolldreiste Geschichten

Derbe Späße in feinen Bildern: Hundert sollten es werden – in ehrfürchtiger Anlehnung an Boccaccios »Decamerone« – dreißig sind es geworden: In seinen »Tolldreisten Geschichten« eiferte Honoré de Balzac seinem großen Vorbild François Rabelais nach und schuf zwischen 1832 und 1837 eine Sammlung vergnüglicher Erzählungen über die feine französische Gesellschaft des Spätmittelalters. Mal kurzweilig dahinplätschernd, mal beißend satirisch, dann auf einmal historisch untermauert ließ Balzac seinem schriftstellerischen Genie freien Lauf, um ein kaleidoskopisches Porträt des Hochadels zu zeichnen. Vier dieser Geschichten nehmen sich die Gebrüder Brizzi vor und verwandeln sie in dieser Graphic Novel in feinsinnige Bildgeschichten. Mit expressivem Verve und ohne Angst vor Übertreibung tragen sie die Fackel von Gustave Doré, Albert Dubout und Albert Robida in ein einundzwanzigstes Jahrhundert, in dem der Hochadel größtenteils verschwunden, die menschliche Natur aber scheint’s unverändert geblieben ist. (Verlagstext)

Rabelais war kein Feingeist – er zog den deftigen Braten der Haute Cuisine vor, und Balzac macht es ihm in seinen tolldreisten Geschichten nach. Hier dreht sich (fast) alles um Liebe und Triebe. Geistige Höhenflüge darf man nicht erwarten, das Frauenbild entspricht längst nicht mehr der political correctness, ein paar pfiffige Wendungen kommen trotzdem darin vor. Balzacs Geschichten werden nacherzählt (es gibt keinen O-Ton Balzac), wobei Paul und Gaëtan Brizzi sich mit Text erfreulich zurückhalten und hauptsächlich die Bilder sprechen lassen. Und die sind wirklich stark.

Regelmäßige Leser von Comickunst wissen, dass ich ein Fan von Schwarzweiß-Zeichnungen bin, denn: Mit Farbe kann man viele Unzulänglichkeiten zukleistern – Schwarzweiß muss man können. Und die beiden haben es wirklich drauf. Was für Gesichter! Was für Gestalten! Wer Balzacs tolldreiste Erzählungen mag (nicht zu verwechseln mit seiner menschlichen Komödie), bekommt hier ein rundum schönes Album – und darf sich nach der Lektüre schon auf Dantes Inferno freuen. Das soll nämlich, wieder von Paul und Gaëtan Brizzi in Szene gesetzt, im Oktober ebenfalls bei Splitter erscheinen.

Paul Brizzi, Gaëtan Brizzi: Tolldreiste Geschichten – nach Honoré de Balzac
Aus dem Französischen von Tanja Krämling
128 SW-Seiten, gebunden, 29,80 Euro, Splitter, ISBN 978-3-96219-124-5
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Herzschlag

Bereits 2001 unter dem Titel Punch your heart out auf Englisch im Selbstverlag erschienen (und für den Ginco Award nominiert), liegt der Band jetzt auch auf Deutsch vor: „Herzschlag“ ist die Geschichte von Kisa und Bonnie, zwei professionellen Boxerinnen, und ihrer Rivalität und aufkeimenden Beziehung inner- und außerhalb des Boxrings. Karen Hertfelders brillant bebildertes Erstlingswerk schildert eine kraftvolle queere Geschichte über Leidenschaft und Frauensport. (Verlagstext)

Was Karen Hertfelder hier abliefert, ist eine ebenso clever aufgebaute wie spannend inszenierte Geschichte, die den Leser bis zur letzten Seite mitnimmt, weil man einfach wissen will, wie die Story ausgeht. Dazu splittet sie die Handlung in zwei Ebenen: Sie präsentiert einen Fight zwischen Kisa Kulak, die nach längerer Pause auf einer Comeback-Tour ist, und Bonnie Ofori, einer Newcomerin mit 14 Siegen in Folge. Zwischen den Runden im Ring erzählt Hertfelder vom Leben der beiden außerhalb der Halle. Je mehr man liest, desto spannender wird die Frage, ob es am Ende nur gebrochene Kiefer oder auch gebrochene Herzen gibt.

Die Zeichnungen kommen, wie der Sport, ziemlich wuchtig rüber, was weniger mein Fall ist, aber Augenpartien und Blicke hat Hertfelder gut im Griff. Die 1996 in Bonn geborene Zeichnerin studiert seit 2015 an der Kunsthochschule Kassel Comic und Illustration und bastelt gerade an ihrer Abschlussarbeit. Wenn ich mir Herzschlag so ansehe, bin ich sicher, dass sie die auch im Griff hat.

Karen Hertfelder: Herzschlag
68 Seiten, 15,- Euro, Schwarzer Turm, ISBN 978-3-910648-01-2
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Nach Paris

Der Zweiteiler von Schuiten und Peeters jetzt als Gesamtausgabe: Das bequeme Leben in der Raumkolonie schmeckt Karinh nicht mehr. Sie soll endlich ihre zwei Normkinder bekommen, sagt die Behörde, die Bevölkerung muss stabil bleiben. Karinh träumt von Terra und einer märchenhaften Stadt namens Paris. Alle verfügbaren Informationen über den Ort hat sie gesammelt, sogar in Form dieser antiken „Bücher“. Da wird eines Tages eine Expedition zur Erde gestartet, und Karinh ist eine der Auserwählten, die mit an Bord darf. (Verlagstext)

Und dann kommt alles anders. Wer einen Band der Geheimnisvollen Städte von Schuiten und Peeters liest (Metamorphosen, Der Archivar, Die Sandkorntheorie, Der Turm u.a.) versinkt in eine Welt, in der vieles rätselhaft scheint. Geschichten werden assoziativ erzählt, monumentale Architektur steht wie ein Fremdkörper im Raum, und die Frage, was die Künstler dem Leser damit sagen wollen, ist nicht klar zu beantworten.

Im Grunde dreht sich alles um Städte und Stadtplanung – und um die Rolle, die Menschen darin spielen. In diesem Fall möchte eine junge Frau, deren Eltern von der Erde stammen, zur Erde zurück. Um Paris kennenzulernen. Um ihre Eltern kennenzulernen. Um die Erde kennenzulernen. Doch was sie findet, ist ein Paris, das nur noch als eine Art eine nachgebaute Touristenattraktion dient. Ein Paris ohne Pariser. Sie fragt sich, weshalb man sie überhaupt hierher geschickt hat. Und vor allem: Weshalb sie unbedingt hierher wollte.

Man muss die Art und Weise, wie Schuiten und Peeters Comics machen, mögen, um sie genießen zu können. Die Lektüre ihrer Alben lässt den Leser oft in einer Mischung aus Verirrung und Faszination zurück. Das ist hier nicht anders – Mitdenken ist erwünscht. Der Anhang, in dem Benoît Peeters einen interessanten Überblick über die architektonischen Veränderungen der französischen Metropole seit 1850 gibt, ist dabei sehr hilfreich.

François Schuiten, Benoît Peeters: Nach Paris (GA)
Aus dem Französischen von Resel Rebiersch
144 Seiten, gebunden, 34,80 Euro, Schreiber&Leser, ISBN: 978-3-96582-121-7
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