Herbst an der Bucht der Somme

Bitte nicht von dem kitschigen Cover täuschen lassen – hier kommt eins der schönsten Alben des Jahres: Im Herbst des Jahres 1896, und damit mitten in der Belle Époque, einer Blütezeit Frankreichs, wird die Leiche des Großindustriellen Alexandre de Breucq auf dessen Schoner in der Bucht der Somme gefunden. Die Pariser Polizei entsendet ihren besten Ermittler, Amaury Broyan, um den hochkarätigen Fall aufzuklären. Der Verdacht fällt schnell auf Breucqs Witwe, die nun Erbin eines immensen Vermögens ist. Aber auch die schöne Mätresse des Toten, jene Axelle Valencourt, die Muse für zahlreiche Künstler der Pariser Bohème ist, könnte involviert sein. Broyan erkennt schon bald, dass dieser Mordfall komplexer ist, als es den Anschein hat, denn von den edelsten Villen der Hauptstadt bis zu den verruchtesten Kabaretts des Montmartre scheinen wirklich alle etwas zu verheimlichen. (Verlagstext)

Es sind illustre Gestalten, die diese Seiten bevölkern: Aktionäre und Anarchisten, Giftmischer und Halsabschneider, reiche Witwen und arme Koketten, Politiker, die manches unter dem Deckel halten, Maler, die von Ruhm und Reichtum träumen – und dann sind da noch die Mitglieder einer undurchsichtigen Geheimgesellschaft. Szenarist Philippe Pelaez hat ein Figurenkabinett zusammengestellt, das einiges an Überraschungen bereithält.

Und dann die Zeichnungen: Die Belle Époque bietet eine Fülle faszinierender Motive. Die Häuser, die Kleidung, die Straßen, die Kutschen, die Möbel, die Boulevards – alles wunderhübsch, meist in einem lichten Blau, koloriert. Alexis Chabert hat sich dabei von den Arbeiten von Gustave Caillebotte, Jean Beraud und Edouard-Léon Cortès inspirieren lassen. Streicheleinheiten für die Augen, in denen man ohne Ende schwelgen kann. Und die Geschichte überzeugt mit viel Spannung und einem angenehm untypischem Schluss. Das ist klasse gemacht und weckt Lust auf weitere Alben dieses Zeichners. Einzig die Fließtexte kommen manchmal, wohl in dem Versuch, das eloquente Französisch der Belle Époque nachahmen, peinlich gestelzt daher.

Alexis Chabert, Philippe Pelaez: Herbst an der Bucht der Somme
Aus dem Französischen von Tanja Krämling
72 Seiten, gebunden, 19,80 Euro, Splitter, ISBN 978-3-98721-099-0
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Alice Guy

Alice Guy (1873–1968) war die erste Filmregisseurin der Welt, ebenso die erste Produzentin und Drehbuchautorin. Sie inszenierte und produzierte an die 500 Filme, agierte in einigen frühen davon auch in Nebenrollen. Bis 1907 war sie Produktionsleiterin der französischen Firma Gaumont, die von 1905 bis 1915 das größte Studio der Welt besaß. 1910 gründete sie in New York die Solax, ihr eigenes Studio, in dem mehr als 300 Filme aller Couleur inszeniert wurden. 1896 drehte Alice Guy mit »La Fée aux Choux« den vermutlich ersten Spielfilm der Filmgeschichte. 1906 realisierte sie die Großproduktion »La Vie du Christ« mit über dreihundert Statisten. Zwischen 1900 und 1906 inszenierte sie ca. 100 Phonoszenen und erwies sich damit überdies als Pionierin des Tonfilms. Sie gehörte zu den ersten, die mit Tricktechnik experimentierten, verwendete Split-Screens, Zeitraffer und Zeitlupe, Stopptrick, Doppelbelichtung und Rückwärtsbewegungen. Trotzdem wird Alice Guys Œuvre noch Jahrzehnte nach ihrem Tod von der Filmgeschichtsschreibung unterschlagen oder ihren männlichen Mitarbeitern zugeschrieben. (Verlagstext)

Genau das soll sich durch diesen 400seitigen Comic ändern. Catel und Bocquet rekonstruieren die Geschichte dieser eigenwilligen Frau, die in Chile aufwuchs, in der Schweiz ausgebildet wurde, in Frankreich den Bildern das Laufen beibrachte und in den USA schließlich ein eigenes Filmstudio gründete, sehr genau. Dabei reihen sie die Stationen ihres abwechslungsreichen Lebens chronologisch aneinander, ohne allzu sehr in die Tiefe zu gehen.

Interessant ist vor allem der Mittelteil des Albums. Bislang gibt es nur Fotografie, aber Ende des 19. Jahrhunderts werden nach und nach die ersten Techniken entwickelt, um Bewegung auf die Leinwand zu bringen. Vom simplen Lebensrad (eine Art Daumenkino in groß), über den Chronofotografen und das Kinetoskop bis hin zum Kinematographen werden die Möglichkeiten von Filmentwicklung und Vorführung immer professioneller. Und natürlich gibt es Konkurrenz zwischen den Firmen, die an der Entwicklung beteiligt sind. Alice Guy, die bei Gaumont als Sekretärin anfängt und aufgrund ihrer Ideen eine für eine Frau der damaligen Zeit erstaunliche Gestaltungsfreiheit von der Firmenleitung bekommt, experimentiert mit der Technik und weiß damit mehr anzufangen, als die Konkurrenz.

Der Informationsgehalt dieses Albums ist hoch – nicht zuletzt durch die angefügte 16seitige Chronologie von Guys Leben, in die die historische Entwicklung des Kinos geschickt eingeflochten wird. 50 Seiten mit Kurzbiografien der in dem Album auftretenden Personen von Auguste und Louis Lumière über Gustave Eiffel bis hin zu Buster Keatin und Charles Chaplin runden es ab.

Konzeptionell ist es damit mehr ein Comic für Kino-Enthusiasten als für Comicfans geworden. Als Biografie kommt die Geschichte ziemlich hölzern daher – kein Vergleich zu der atmosphärischen Dichte von Bänden wie Anaïs Nin, Stockhausen oder Mademoiselle Baudelaire. Wer allerdings die Entwicklung der Filmtechnik mal kompakt auf 400 Seiten präsentiert bekommen und sich über den Anteil, den Alice Guy daran hatte, informieren möchte, findet hier jede Menge Lesefutter.

Catel, José-Louis Bocquet: Alice Guy
Aus dem Französischen von Antje Riley
400 SW-Seiten, gebunden, 45,- Euro, Splitter, ISBN 978-3-98721-029-7
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Heinrich Heine

Das Leben von Heinrich Heine in Bildern: »Im traurigen Monat November war’s, die Tage wurden trüber, der Wind riß von den Bäumen das Laub, da reist ich nach Deutschland hinüber.« So beginnt eines der berühmtesten Werke von Heinrich Heine: »Deutschland – Ein Wintermärchen«. Dies war nur eine von vielen Reisen. In kunstvoll verwobenen Bildern erzählt Heinrich Heine als Dichter, Schriftsteller und Journalist über gesellschaftliche, philosophische und individuelle Themen, wie Flucht, Exil, Zensur, Nationalismus und Europa, aber auch Liebe, Schönheit, Natur und Märchenhaftes. Als scharfsichtiger und oft geradezu verzweifelter Spötter greift er die Missstände seiner Zeit auf und spricht sich für das Recht jedes Einzelnen auf ein Leben in Freiheit aus, das für ihn ausdrücklich auch den Anspruch auf Lebensglück, die Befreiung von Körper und Geist, beinhaltet … Peter Eickmeyer und Gaby von Borstel verwandeln seine Wortkunst in eine Bilderwelt, die die vielfältigen Lebensstationen von seiner Kindheit im napoleonisch geprägten Düsseldorf bis zu seinem langen Siechtum in seiner Matratzengruft in Paris aufzeigt. (Verlagstext)

Nach der Adaption von Remarques Antikriegs-Klassikers Im Westen nichts Neues und dem empfehlenswerten Seenot-Rettungsalbum Liebe deinen Nächsten wieder ein Band vom Team Eickmeyer und von Borstel. Und wie in den bisherigen Alben im gleichen Stil: Peter Eickmeyer malt ganz- oder doppelseitige Bilder, über die der Text von Gaby von Borstel – und in diesem Fall hauptsächlich der von Heinrich Heine – gelegt wird.

Das sieht wie immer prima aus, war aber bisher schon manchmal grenzwertig, weil man oft das Bedürfnis hatte, das ganze Bild sehen zu wollen. In diesem Band werden die Bilder von der Fülle des Textes teilweise regelrecht erschlagen. Von manchen Gemälden bleiben nur noch Fragmente übrig, und zu alledem wirken die Bildmotive oft beliebig und – Heine im Ruderboot auf einem Blümchensee – kitschig. In den vorigen Bänden waren die Motive treffender.

Natürlich gibt es auch diesmal geniale Seiten. Die letzte Szene in der Matratzengruft beispielsweise. Oder das Porträt am Schluss. Und Heines Texte lesen sich auch heute noch interessant. Insgesamt wäre weniger Text und mehr Bild aber besser gekommen.

Peter Eickmeyer, Gaby von Borstel: Heinrich Heine – Eine Lebensfahrt
64 Seiten, 18,- Euro, Splitter, ISBN 978-3-95839-452-0
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