Lydie

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Der Spalt zwischen Fiktion und Realität ist im Grunde schmal. So ist es wenig erstaunlich, wenn Wünsche oder Fiktionen für manche Menschen materielle Realität werden, obwohl es objektiv keinen Grund dafür gibt. Sie beten Götter an und richten ihr Leben nach angeblich von höheren Mächten vorgegebenen Regeln. Andere behaupten, mit Toten kommunizieren zu können, wieder andere glauben an die unbefleckte Empfängnis. Ob man damit gesellschaftlich durchkommt oder in der Klapsmühle landet hängt davon ab, wie viele andere Menschen den gleichen Unsinn vertreten.

So gesehen hat Lydie Glück. Keiner der Bewohner, die mit ihr in der Gasse des Babys mit dem Schnurrbart leben, möchte sie in eine Anstalt einweisen lassen. Statt dessen kümmern sich alle liebevoll um ein Kind, das gar nicht existiert. Schließlich, sagt Doktor Fabian, den alle nur Doktor Fabulierer nennen, weil er seinen Patienten gerne Geschichten erzählt, schließlich spielen wir im Leben alle unsere kleinen Komödien.

Zidrou erzählt in diesem Album die Geschichte einer Frau, die ihr Kind bei der Geburt verliert – und die Geschichte ihrer Freunde, die ihr auf ungewöhnliche Art darüber hinweg helfen. Als Erzähler wählt Zidrou eine Madonnenfigur, die im Erker eines Hauses in der Gasse des Babys mit dem Schnurrbart steht. Seine Erzähltechnik macht die Story spannend, und die Charaktere der Protagonisten werden klar herausgearbeitet. Die im Semi-Funny-Stil gehaltenen Zeichnungen von Lafebre setzen die Geschichte kongenial um und geben den Figuren viele persönliche Noten. Ein leises, poetisches Kleinod, das es schafft, anrührend zu sein, ohne an irgend einer Stelle kitschig zu werden. Mehrfach ausgezeichnet.

Jordi Lafebre, Zidrou: Lydie
60 Seiten, gebunden, 20,- Euro, Salleck Publications, ISBN 978-3-89908-589-1
auch als Vorzugsausgabe mit 76 Seiten für 49,- Euro
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Ich bin Fagin

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Der Matsch lag dick auf dem Pflaster, und ein schwarzer Dunst hing über der Straße. Der Regen fiel träge herab, und alles fühlte sich kalt und klamm an. Es schien gerade die rechte Nacht, in der es sich für ein Geschöpf wie den Juden geziemte auszugehen. Wie er so verstohlen dahinglitt, im Schutze der Mauern und Hauseingänge, glich der grässliche alte Mann einem abscheulichen Reptil, hervorgegangen aus dem Schlamm und dem Dunkel, durch die er sich bewegte, das in der Nacht vorankriecht, auf der Suche nach einem üppigen Mahl von Innereien.

So charakterisiert Charles Dickens seine Figur Fagin in dem Roman Oliver Twist – und festigt damit das antisemitische Bild, das die Menschen damals von Juden hatten. Fagin ist ein ziemlicher Widerling, der Waisenkinder zu Dieben macht, sie ausnutzt und dann ihrem Schicksal überlässt. Dieses antisemitische Zerrbild wurde von Dickes zwar von Neuauflage zu Neuauflage stückchenweise abgemildert, aber die Originalausgabe hat ganze Generationen geprägt. Die dazugehörigen Illustrationen von George Cruikshanks taten ihr übriges, um das Bild des Juden als minderwertige Kreatur im Kopf der Leser zu festigen.

Will Eisner, der aus einer jüdischen Familie stammt, hat sich daran gestört. In seinem Album Ich bin Fagin, dem er den Untertitel Die unerzählte Geschichte aus Oliver Twist gegeben hat, macht er den Versuch, anhand einer – von ihm erfundenen – Lebensgeschichte von Fafin zu erklären, weshalb bestimmte Gruppen von Juden im London des 19. Jahrhunderts zwangsläufig auf die schiefe Bahn geraten mussten. Nämlich schlicht deshalb, weil sie von der bürgerlichen Gesellschaft systematisch ausgegrenzt wurden.

Nun ist der Altmeister der Graphic Novel nicht nur ein begnadeter Zeichner, sondern auch ein starker Erzähler. Die Zeichnungen sind auch in diesem Band erste Sahne. Die Geschichte ist es leider nicht. Wenn man nicht erzählt, sondern erklären oder belehren will, besteht die Gefahr, in Klischees zu versinken. Genau das ist hier der Fall. Eisner liefert eine larmoyante Story über ein Waisenkind, das immer nur Pech hat und am Ende nichts dafür kann, dass es wird, was es wird. Das ist inhaltlich sicher nicht falsch, aber dadurch, dass Eisner die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nur anreißt, und den Schwerpunkt auf die individuelle Leidensgeschichte legt, wirkt die Story konstruiert und kitschig (und könnte, so moralisierend sie ist, glatt von Dickens selbst sein).

Mit dem Thema Antisemitismus hat Eisner sich in seinem Album Das Komplott überzeugender auseinander gesetzt. Davon abgesehen ist Fagin natürlich ein Comic, den man, wie immer bei Eisner, auch alleine seiner Zeichnungen wegen lesen kann.

Will Eisner: Ich bin Fagin – Die unerzählte Geschichte aus Oliver Twist
136 Seiten, gebunden, 19,99 Euro, Egmont, ISBN: 978-3-7704-5521-8
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Suite française

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Irène Némirovsky, Jahrgang 1903, kam mit 16 Jahren nach Paris, studierte Literatur an der Sorbonne und war bereits mit ihrem ersten Roman (David Golder) erfolgreich. Als die Deutschen in Frankreich einmarschierten, floh sie mit ihrem Mann und den Töchtern in die Provinz. Im Juli 1942 wurde sie als Jüdin verhaftet und nach Auschwitz- Birkenau transportiert, wo sie einen Monat später an Typhus starb. Ihr Mann wurde direkt nach der Einlieferung vergast.

Die Töchter dagegen konnten vor ihrer Verhaftung fliehen. Im Gepäck hatten sie ein Manuskript ihrer Mutter. Die hatte – trotz Publikationsverbots – einen neuen Roman begonnen. Sie wollte das Leben unter der deutschen Besatzung beschreiben. Durch ihre Verhaftung bleib er unvollendet, aber der vorhandene Entwurf reichte, um ihn – allerdings erst 60 Jahre später – unter dem Titel Suite française zu publizieren. Némirovsky schildert darin die Reaktionen von drei Familien auf den Einmarsch der Deutschen in Paris. Das Buch wurde weltweit ein Bestseller.

Da ich den Roman nicht kenne, kann ich nicht beurteilen, ob die Adaption gelungen ist. Für mein Gefühl werden die Motive der Figuren, ihre Beziehungen zueinander und der Antrieb für ihr Handeln in dem Album mehr angedeutet, als nachfühlbar beschrieben. Das hätte man kompakter und stringenter erzählen können. Wenn man vorher den Roman gelesen hat und die Hintergründe kennt, erschließt sich die Geschichte wahrscheinlich besser.

Die Zeichnungen von Moynot sind erste Sahne – viel besser als in seinen Nestor Burma-Alben, deren Fortführung er von Tardi übernommen hatte. Moynot bringt Ausdruck in die Mimik seiner Personen, und die allein sagt oft mehr als Worte. Das sind echte Charaktergesichter. Auch die Häuser, Straßen, Landschaften und Fluchtwege sind rumdum lebendig. Ein spannendes, klasse gezeichnetes, streckenweise zwar etwas fragmentarisches, aber gerade in der heutigen Zeit, in der Menschen wieder weltweit um ihr Leben rennen, auch wichtiges Album.

Emmanuel Moynot, Irène Némirovsky: Suite française – Sturm im Juni
224 SW-Seiten, 19,95 Euro, Jacoby & Stuart, ISBN 978-3-942787-64-2