Der Spalt zwischen Fiktion und Realität ist im Grunde schmal. So ist es wenig erstaunlich, wenn Wünsche oder Fiktionen für manche Menschen materielle Realität werden, obwohl es objektiv keinen Grund dafür gibt. Sie beten Götter an und richten ihr Leben nach angeblich von höheren Mächten vorgegebenen Regeln. Andere behaupten, mit Toten kommunizieren zu können, wieder andere glauben an die unbefleckte Empfängnis. Ob man damit gesellschaftlich durchkommt oder in der Klapsmühle landet hängt davon ab, wie viele andere Menschen den gleichen Unsinn vertreten.
So gesehen hat Lydie Glück. Keiner der Bewohner, die mit ihr in der Gasse des Babys mit dem Schnurrbart leben, möchte sie in eine Anstalt einweisen lassen. Statt dessen kümmern sich alle liebevoll um ein Kind, das gar nicht existiert. Schließlich, sagt Doktor Fabian, den alle nur Doktor Fabulierer nennen, weil er seinen Patienten gerne Geschichten erzählt, schließlich spielen wir im Leben alle unsere kleinen Komödien.
Zidrou erzählt in diesem Album die Geschichte einer Frau, die ihr Kind bei der Geburt verliert – und die Geschichte ihrer Freunde, die ihr auf ungewöhnliche Art darüber hinweg helfen. Als Erzähler wählt Zidrou eine Madonnenfigur, die im Erker eines Hauses in der Gasse des Babys mit dem Schnurrbart steht. Seine Erzähltechnik macht die Story spannend, und die Charaktere der Protagonisten werden klar herausgearbeitet. Die im Semi-Funny-Stil gehaltenen Zeichnungen von Lafebre setzen die Geschichte kongenial um und geben den Figuren viele persönliche Noten. Ein leises, poetisches Kleinod, das es schafft, anrührend zu sein, ohne an irgend einer Stelle kitschig zu werden. Mehrfach ausgezeichnet.
Jordi Lafebre, Zidrou: Lydie
60 Seiten, gebunden, 20,- Euro, Salleck Publications, ISBN 978-3-89908-589-1
auch als Vorzugsausgabe mit 76 Seiten für 49,- Euro
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