Flying Couch

Jüdische Familiengeschichte in drei Generationen: Die Themen jüdische Identität, Schuld und die komplexen Beziehungen zwischen Töchtern, Müttern und Großmüttern stehen im Mittelpunkt dieses Memoirs. Amy verwebt die Geschichte ihres Erwachsenwerdens als junge jüdische Künstlerin in New York mit den Erzählungen ihrer in Deutschland geborenen Mutter, einer Psychologin, und ihrer Bubbe – ihrer Großmutter –, einer Überlebenden des Warschauer Ghettos. … Indem sie die Stimmen und Geschichten dreier kluger, lustiger und sehr unterschiedlicher Frauen miteinander verwebt, schafft sie ein Porträt nicht nur dessen, was es bedeutet, Teil einer Familie zu sein, sondern auch davon, wie jede Generation die Spuren der Vergangenheit in sich trägt. (Verlagstext)

Dabei verzichtet Autorin Ami Kurzweil auf Panels und unterliegt nicht dem Zwang, jede weiße Fläche füllen zu müssen. Der Mut zur Lücke schafft Erholung für die Augen und die Möglichkeit, Figuren und Ereignisse pointiert in Szene zu setzen. Erfrischend ist auch die Art, wie sie ihr Personal agieren lässt – sich selbst, ihre Mutter (eine Psychologin kann man immer gut karikieren), und vor allem ihre Bubbe. Die Bubbe spricht Jiddisch, was auch in der Übersetzung von Nicola Stuart beibehalten wird. Dadurch entsteht eine sehr lebendige Atmosphäre. Die Großmutter ist überhaupt die schrägste, lebensfrohste und unzerstörbarste Frau dieses Trios. Und lebendig und lebensfroh kommen auch Zeichnungen und Layout rüber.

Ein großer Teil der Familiengeschichte beschäftigt sich naturgemäß mit der Flucht der Großmutter vor den Nazis. Das ist es, was dieses Album interessant macht. Das, und das quirlige Gemüt der Bubbe. Trotz allem Schrecken, von dem erzählt wird, kommt der Humor nie zu kurz. Eine Geschichte vom Kampf um das Überleben – und über die Freude am Leben.

Amy Kurzweil: Flying Couch – Ein Graphic Memoir
Aus dem Englischen von Nicola T. Stuart
304 SW-Seiten, 32,- Euro, Jacoby & Stuart, ISBN 978-3-96428-153-1

Aber ich lebe

Ein Album über vier Kinder, die den Holocaust überlebt haben. Und darüber, wie sie das geschafft haben: Emmie Arbel überlebte als kleines Mädchen die Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-Belsen. David Schaffer entkam dem Genozid in Transnistrien, weil er sich nicht an die Regeln hielt. Die Brüder Nico und Rolf Kamp versteckten sich in den Niederlanden dreizehn Mal vor ihren Mördern. Zusammen mit den Überlebenden haben drei international bekannte Zeichner:innen deren Geschichten in Graphic Novels erzählt, die unvergesslich vor Augen führen, was der Holocaust für Kinder bedeutete – und nicht nur für sie. (Verlagstext)

Dieses Album ist wirklich klasse. Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar erzählen drei Geschichten. Bei allen geht es um Strategien, mit denen Kinder versucht haben, den Holocaust zu überleben. Und um Eltern, Widerstandskämpfer oder einfach mutige Menschen, die dabei geholfen haben. Dreimal das gleiche Thema, und doch drei individuell unterschiedliche Geschichten.

Dazu haben die Zeichnerinnen mit den (heute natürlich erwachsenen) Kindern von damals gesprochen. So bekommt der Leser keine Fantasieprodukte, sondern den O-Ton der Betroffenen – und damit rundum authentische Erzählungen. Grafisch verwenden Yelin, Libicki und Seliktar jeweils ihren eigenen Stil, was die Geschichten auch optisch voneinander abhebt und das Album abwechslungsreich macht.

Von den 176 Seiten bestehen 130 aus den drei Comics. Selbst geschriebene Biografien der Interviewten und Informationen über historische Hintergründe ergänzen das Album. Das ist durchaus interessant, macht den Band aber teuer. Vielleicht wäre da weniger mehr gewesen. Jugendliche sind die Hauptzielgruppe dieses Albums.

Was nervt, ist der Satz von James E. Young als Werbung auf der Rückseite: Die stärksten Graphic Novels über den Holocaust seit Art Spiegelmans Maus. Da fragt man sich: Was liest Young sonst so? Mickey Mouse? Alleine auf Comickunst findet man Rezensionen von über 40 Alben, die den Holocaust (oft auch aus Kindersicht) erschreckend authentisch beschreiben. Man braucht nur die Kategorie Faschismus / 3. Reich anzuklicken. Klar, Werbung muss sein. Aber solch hohle Werbesprüche tragen maßgeblich zur Sinnentleerung von Sprache bei.

Für die meisten Jugendlichen wird das Album zu teuer sein. Was einer der Gründe dafür ist, dass es in jede Schulbibliothek gehört. Für Schulen gibt es außerdem auf der Website der Herausgeber jede Menge ergänzendes Unterrichtsmaterial (Texte, Videos, Interviews, etc.) – bislang allerdings nur auf Englisch.

Barbara Yelin, Miriam Libicki, Gilad Seliktar: Aber ich lebe
Aus dem Englischen von Rita Seuß
176 Seiten, gebunden, 25,- Euro, C.H.Beck, ISBN 978-3-406-79045-4
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Ein Sack voll Murmeln

Die Geschichte von zwei Kindern, die 1941 aus dem von den Nazis besetzten Frankreich fliehen mussten. Der Verlag schreibt: Die Memoiren „Ein Sack voll Murmeln“ erschienen 1975, wurden in zwanzig Sprachen übersetzt, zweimal verfilmt und sind längst zum literarischen Klassiker geworden. Darin erzählt Joseph Joffo (1931–2018) von seinen Erinnerungen als jüdisches Kind in Paris während der deutschen Besatzung und seiner Flucht gemeinsam mit seinem Bruder. Die Stärke seiner Geschichte liegt in der Offenheit und dem Pragmatismus des kindlichen Blicks, den er damals auf die täglichen Ereignisse dieser seltsamen und schrecklichen Zeit hatte. Ein Klassiker, adaptiert als packendes und einfühlsames Comic von Kris und Vincent Bailly.

Von Autor Kris liegen bei bahoe schon die Alben Nacht über Brest und Ein Match für Algerien vor. Immer geht es um den Widerstand gegen Besetzungsmächte. In dem Algerien-Album gründen elf Fußballer der französischen Ligue 1 im Jahr 1958 einen algerischen Fußballverein, um mit ihren Spielen für die Unabhängigkeit Algeriens zu demonstrieren. In dem Brest-Album dreht sich alles darum, ein U-Boot der republikanischen Truppen, das im Herbst 1937 während des Spanischen Bürgerkriegs im Hafen von Brest repariert werden muss, gegen Francos Faschisten zu verteidigen, die es in einer Geheimaktion übernehmen wollen.

Der aktuelle Band Ein Sack voll Murmeln wiederum erzählt von zwei jungen Brüdern, die quer durch das von Hitlertruppen besetzte Frankreich in den freien Teil der Republik flüchten müssen. Ohne richtige Pässe und Nazischnüfflern an allen Bahnhöfen und wichtigen Straßenverbindungen ist das lebensgefährlich. Da die Romanvorlage später von einem der – inzwischen erwachsenen – Kinder selber geschrieben wurde, weiß man, dass sie es geschafft haben – was die Spannung dieses Albums logischerweise reduziert. Gut herausgearbeitet wird, dass sie sich ständig auf neue, veränderte Situationen einstellen mussten, die manche Planung komplett über den Haufen warf und viel Improvisation und Geistesgegenwart erforderte. Ein prima gezeichnetes Album, das den Eisner Award in der Kategorie Best Reality-Based Work abgeräumt hat.

Vincent Bailly, Kris, Joseph Joffo: Ein Sack voll Murmeln
Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard
128 Seiten, gebunden, 24,- Euro, bahoe, ISBN 978-3-903290-62-4
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