Jenseits

Na, da bleibt einem die Niedlichkeit wirklich im Halse stecken, wenn man dieses moderne Märchen von Kerascoët und Vehlmann zu Ende gelesen hat. Eine Geschichte in wunderhübschen Zeichnungen, in der zuckersüße, unschuldige Figuren mit engeligem Augenaufschlag Dinge tun, die man unwillkürlich zweimal liest, weil man einfach nicht glauben mag, was man da beim ersten Mal gesehen hat.

Dabei fängt alles harmlos an: Eine junge Dame hat ihren Schwarm eingeladen, Kuchen und heiße Schokolade werden gereicht, es verspricht sehr vergnüglich zu werden. Doch die Idylle schlägt in Entsetzen um, als dicke violette Tropfen von der Decke fallen und alles einzustürzen droht. In letzter Sekunde entkommen sie ans Tageslicht, und sehen, dass es kein Haus war, aus dem sie geflohen sind, sondern die Nasenlöcher eines toten Mädchens. Mit einer Reihe weiterer kleiner Geschöpfe, die ebenfalls aus den Körperöffnungen der Toten fliehen, müssen sie sich jetzt in einer Umwelt zurechtfinden, in der selbst die Mäuse größer sind als sie. Gemeinsam könnten sie es schaffen. Doch die Konkurrenz ist groß und die Liste der Eitelkeiten lang, und so nehmen die Intrigen ihren Lauf.

Unter dem Pseudonym Kerascoët haben sich Marie Pommepuy und Sébastien Cosset in Frankreich einen Namen gemacht. Gemeinsam haben sie Alben für die Serien Fräulein Rühr-mich-nicht-an und Donjon – Abenddämmerung gezeichnet. Die Idee zu Jenseits (das Album hätte übrigens auch gut in das Splitter-Programm gepasst) stammt von Marie Pommepuy. Das Beklemmende daran ist nicht die (nicht immer logische) Handlung an sich, sondern dass all die kleinen Grausamkeiten von Wesen begangen werden, die so naiv aussehen, dass sie beim Betrachter Beschützerinstinkte wecken. Aber wenn dann so ein putziges Wesen, etwas kleiner als der Vogel, auf dessen Flügel es kniet, um ihn festzuhalten, einem anderen zuruft, nimm die Schere und schneide ihm die Flügel ab, damit er nicht fliehen kann, löst das sehr irritierende Gefühle aus.

Kinder können grausam sein. Selten war Grausamkeit so schön wie in diesem Comic. Und selten ein Happy-End so grausam. Ziemlich genial, aber eben auch, wie ein Leser im Comicforum schreibt: „Gestern abend gelesen. Holla, das muss ich erstmal sacken lassen. Ganz schön verstörend.“

Kerascoët, Fabien Vehlmann: Jenseits
96 Seiten, 18,- Euro, Reprodukt, ISBN 978-3-941099-30-2
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