Die Zeit der Wilden

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Das Cover ist langweilig, aber das Album ist klasse. Verlagstext: Martine ist eine gesichtslose Arbeiterin wie abertausend andere. Die zarte Liebelei mit einem Kollegen ist der einzige Lichtblick in ihrem trostlosen Alltag an der Supermarktkasse. Und ein fristloser Kündigungsgrund, denn der gnadenlose Takt unternehmerischer Effizienz duldet keine Ablenkungen. Das Entlassungsgespräch verläuft aus Versehen tödlich – nichts, was ein paar gute Anwälte nicht richten könnten. Aber Martines vier Söhne, Gezeichnete einer bestialischen Welt, in der sie keinen Platz finden, sind auf Rache aus. Und wenn Wölfe gegen Wölfe kämpfen, wird Blut fließen. Konsum ohne Maß und Rücksicht. Rentabilität um jeden Preis und gnadenloser Wettbewerb in jeder Facette des Daseins. Ressourcenverschwendung für das Maximum menschlicher Ausschweifung. Es ist eine Spirale der Dekadenz. Es ist »Die Zeit der Wilden«. Eine Graphic Novel, so zynisch wie komisch, so klarsichtig wie komplex. Das Porträt einer vom Kapitalismus geformten Welt.

Dass Klappentexte oft so übertrieben sein müssen. Es ist ein starkes Album, eine gelungene Mischung aus Thriller und SF, es gibt viele gute Gründe es zu lesen – da muss man kein kapitalismuskritisches Standardwerk draus machen. Ist es nämlich nicht. Es ist in erster Linie eine Geschichte über Rache. Und weil wir gerade beim Nörgeln sind: Keine Frau tut es als nebensächlich ab, wenn man ihr mitteilt, dass man gerade ihre Eltern ermordet hat. Mit solchen und ähnlichen Charakterzügen glänzt aber die Frau des von den Wölfen gejagten Jean. Vielleicht soll das cool rüberkommen, wirkt aber immer wieder nur unglaubwürdig.

Was umso ärgerlicher ist, als die Dame eine der tragenden Figuren dieses Albums ist, das ansonsten einfallsreich, spannend und originell daherkommt. Wir befinden uns in einer Zeit, in der man Menschen durch genetische Manipulationen Eigenschaften von Tieren mitgeben kann. Die vier Brüder, die den Tod ihrer Mutter rächen wollen, haben wölfische. Sie mögen Blut, sie sinnen auf Rache, und sie bewegen sich, wenn sie jagen und kämpfen, wie Wölfe. Doch nicht alle Menschen haben tierische Eigenarten (und nicht alle Wölfe die gleiche Meinung).

Sébastien Goethals, der sich bislang eher mit historischen Stoffen beschäftigt hat (Die Reise des Marcel Grob, Das Spiel der Brüder Werner) hat damit ein interessantes Figurenkabinett zusammengestellt. Durch die unterschiedlichen Charaktere entsteht zusätzlich Spannung, die in wechselnden Farben monochrom kolorierten Zeichnungen kommen vor allem bei den Wölfen stark, und an überraschenden Wendungen mangelt es nicht. Wenn man von der pseudocoolen Lady absieht (die auch ein paar gute Szenen hat), ein echter Pageturner.

Sébastien Goethals: Die Zeit der Wilden
Aus dem Französischen von Tanja Krämling
272 Seiten, gebunden, 39,80 Euro, Splitter, ISBN 978-3-96792-048-2
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