Vergiss mich nicht

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Ein Roadtrip der besonderen Art. Verlagstext: Die neunzigjährige Marie-Louise hat Alzheimer. Nach einem waghalsigen Fluchtversuch aus dem Pflegeheim entscheidet ihre Tochter, dass sie durch starke Medikamente ruhiggestellt werden muss. Marie-Louises Enkelin Clémence jedoch kann diesen drastischen Schritt nicht akzeptieren und beschließt, ihre Großmutter zu entführen. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach dem Haus aus Marie-Louises Kindheit – eine Flucht, eine Ablenkung und vielleicht ein Weg zurück ins Leben. Oder ist es eher ein Abschied? Für ihr eindrucksvolles Debütwerk schöpft Zeichnerin Alix Garin aus ihren eigenen Erfahrungen im Umgang mit Betroffenen von Demenzerkrankungen, die oft unheilbar und fast immer eine schwere Bürde für das Umfeld der Patienten sind.

Es dauert eine Weile, bis diese Geschichte in Schwung kommt – aber dann nimmt sie richtig Fahrt auf. Ausgangspunkt ist die Frage, ob man einen Mensch, der sich aufgrund geistiger Verwirrung immer wieder unabsichtlich selbst gefährdet, mit Medikamenten ruhigstellen soll, oder … – ja, oder was? Welche Alternative gibt es? Realistisch gesehen keine, falls man nicht jemanden findet, der sich rund um die Uhr um die Person kümmert. Aber wovon sollen sie das finanzieren?

Enkelin Clémence denkt nicht in Ewigkeiten, sondern handelt im Hier und Jetzt. Sie packt ihre Großmutter kurzentschlossen in ein Auto und fährt los. Denn Omi möchte gerne das Haus ihrer Kindheit wiedersehen. Das ist weit entfernt, und es stellt sich heraus, dass man auch während der Fahrt rund um die Uhr auf die eigenwillige Omi aufpassen muss. Ein gut gezeichnetes Album mit einem originellen Schluss, das manche Überraschung parat hält und ein Problem thematisiert, mit dem sich früher oder später viele von uns rumschlagen müssen.

Alix Garin: Vergiss mich nicht
Übersetzung von Harald Sachse
224 Seiten, gebunden, 29,80 Euro, Splitter, ISBN 978-3-96792-148-9
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Vervirte Zeiten

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Corona ist das beherrschende Thema der Zeit. Ralf König hat auf seinen Facebook- und Instagram-Profilen seit Ausbruch der Pandemie in Deutschland im März 2020 täglich einen kurzen Comicstrip zum Thema publiziert – und dazu Konrad und Paul, das bekannteste Schwulenpärchen der Republik, reanimiert. Vervirte Zeiten bringt eine Sammlung aller Beiträge bis Jahresende 2020. Verlagstext: Jeden Tag kommentiert Ralf König mit Hilfe seines beliebten Männerpaares die neue Situation. Zu Hause bleiben, da wird telefoniert und geskypt, was das Zeug hält, plötzlich erinnert man sich an alte Freunde, philosophiert über Sinnkrisen und bedauert, den mürrischen Vater im Seniorenstift nicht besuchen zu dürfen, den man auch vorher nicht besucht hat! Und da das Leben trotz Virus weitergeht, verknallt sich Paul ausgerechnet jetzt in den hinreißenden Filialleiter des nächstgelegenen Supermarkts, den angeblich schönsten Mann Kölns!

Und das ist nicht alles. Als AIDS kam, ging Sex nur noch mit Kondomen, und das war schon schlimm genug – jammert Paul. Aber bei Corona auch noch Mundschutz tragen – was bleibt da noch von der Erotik? Dazu kommt, dass Paul langsam älter (und unförmiger) wird, weshalb es nicht mehr zwingend erotisch ist, mit nacktem Oberkörper an einer Skype- oder Zoom-Session teilzunehmen. Wobei das Alter ja auch Thema in Königs Alben Stell dich nicht an, Mann! und Herbst in der Hose war. Aber wenn sich schon in der Hinsicht nicht mehr viel tut, kann man mit seinem alten Vater mal heimlich einen Joint im Seniorenheim durchziehen und sich von ihm mit wichtigen Lebensweisheiten versorgen lassen.

Es geht hier also vor allem um Sex und Beziehungen in Zeiten von Corona. Aber auch Querdenker, Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker werden aufs Korn genommen. Treffender als in dem Strip auf Seite 55 kann man diese Spezies Mensch kaum charakterisieren. Über das Chaos-Management der Regierung, das sich ja geradezu für Satire anbietet, kommt dagegen leider nichts, und natürlich gibt es bei einer Aneinanderreihung täglicher Strips auch keinen Spannungsbogen oder ähnliches. Trotzdem nett zu lesen – und ein schönes Wiedersehen mit Konrad und Paul.

Ralf König: Vervirte Zeiten
192 Seiten, gebunden, 24,- €, (E-Book 19,99 €), Rowohlt, ISBN: 978-3-498-00211-4
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Nils

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Mein lieber Mann – das ist nichts für zarte Gemüter. Obwohl das Album in komplett buntem Kinderbuch-Desgin daherkommt, geht es einem ganz schön an die Nieren. Verlagstext: „Kein Mensch kann den anderen von seinem Leid befreien; aber er kann ihm Mut machen, das Leid zu tragen“ (Selma Lagerlöf). Genau das tut die Kinderbuchillustratorin Melanie Garanin mit diesem Buch. Nach dem tragischen Tod ihres jüngsten Sohnes reagierte sie auf ihre eigene Art: Sie zeichnete. Entstanden ist eine Graphic Novel in der ihre Verzweifelung und Wut ebenso Platz haben wie die schönen Erinnerungen und der Humor, ein Buch, das nichts beschönigt und doch Mut macht – uns allen.

Naja – ob es Mut macht, möchte ich bezweifeln. Mich hat es eher wütend gemacht. Dass ein Kind stirbt, ist schlimm genug. Noch schlimmer ist in diesem Fall, wie es stirbt. Und weshalb es stirbt. Obwohl der Tod des Jungen absehbar ist (Diagnose: Leukämie), kommt er hier plötzlich, unerwartet – quasi aus dem Nichts. Das ist bitter ohne Ende.

Melanie Garanin, 1972 geboren, hat bislang vor allem Kinder-und Jugendbücher illustriert, unter anderem die Reihe Pippa Pepperkorn bei Carlsen. Wie gut sie darin ist, sieht man in diesem Album auf jeder Seite. Da ist (fast) alles hell und froh, der Tod lugt zwar ab und zu um die Ecke, aber die Farben leuchten, alles ist voller Leben, und im Grunde schöpfen alle Beteiligten immer wieder neue, durchaus berechtigte Hoffnung. Bis es passiert.

Man mag nicht glauben, was man da liest. Genial gezeichnet, erschreckend präzise erzählt und sicher eine der stärksten Neuerscheinungen des Jahres. Aber durch und durch herzzerreißend. Wer demnächst einen Krankenhausaufenthalt vor sich hat, sollte die Finger davon lassen.

Top 10 2016

Melanie Garanin: Nils – Von Tod und Wut. Und von Mut.
200 Seiten, gebunden, 22,- Euro, Carlsen, ISBN 978-3-551-76049-4
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