
So schön kann Diversität sein. Rose, ein 19-jähriger junger Mann, wächst Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Pariser Kabarett auf. Wie alle jungen Tänzerinnen dort möchte auch er in extravaganten Outfits auf der Bühne auftreten. Durch sein Talent wird er schnell zur Hauptattraktion und verzaubert besonders Aimé, einen vom Leben gelangweilten Millionär. Feinfühlig unterstützt er Rose auf der Suche nach der eigenen Identität unabhängig vom biologischen Geschlecht. Gaëlle Geniller zeichnet eine bunte, diverse Welt, in der wohl jede*r gern leben würde. (Verlagstext)
Sie heißen Sonnenblume, Margerite, Maiglöckchen, Hyazinthe, Schneeglöckchen und Mohnblume und sind Tänzerinnen, die zusammen mit Rose (aufgrund seines Alters auch Knospe genannt) im Kabarett Die Blüte leben. Rose ist der Sohn der Besitzerin. Da er von Kindheit an bei den Blüten aufwächst, entwickelt er wie sie Lust an Tanz, Bewegung und Verkleidung. Aber als der erste Auftritt naht, ist das Lampenfieber groß. Gaëlle Geniller erzählt hier vom Alltag in einem Tanzsalon. Das ist wenig spektakulär – einfach das übliche Leben zwischen Bühne, Verehrern, Verliebtheit und Arbeit. Ungewohnt ist allerdings die Art und Weise, wie sie es erzählt.
Als sich der deutlich ältere Aimé für Rose zu interessieren beginnt und ihn auf seinen Landsitz einlädt, erwartet man als ARD- und ZDF-sozialisierter Leser unwillkürlich Sorgen, Ermahnungen und Verbote der Mutter – schließlich kann Aimé doch nur schwul sein, oder? Welches Interesse sollte er sonst an ihrer zarten Knospe haben? Und was wird er dort mit dem noch Jungfräulichen anstellen? Aber von der Mutter kommt kein Wort. Alles passiert wie selbstverständlich. Weshalb sagt sie nichts?
Weil es unwichtig ist. Diese Selbstverständlichkeit, die sich an keiner Stelle darum schert, wer welches Geschlecht oder welche erotischen Vorlieben hat (oder ob es Aimé überhaupt um Erotik oder nur um Freundschaft geht), macht die Stärke des Bandes aus. Wo beispielsweise Der Prinz und die Schneiderin seine komplette Spannung daraus bezieht, dass ein Mann heimlich Frauenkleider trägt, ist das hier völlig belanglos. Das wirbelt anerzogene Rollenbilder durcheinander und hat etwas unglaublich befreiendes. Der ganze überflüssige Popanz über richtige und falsche erotische Verhaltensweisen entfällt. Dadurch wird plötzlich alles ganz einfach. Zusammen mit seinen stylischen Bildern ist dieses Album ein kleines Juwel unter den Neuerscheinungen.
Gaëlle Geniller: Die Blüte von Paris
Aus dem Französischen von Christiane Bartelsen
224 Seiten, gebunden, 26,- Euro, Carlsen, ISBN 978-3-551-76016-6
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